Der gezielte Schuss in der Silvesternacht

Eine Heppendorfer Dorfgeschichte aus dem 19. Jahrhundert.

Die Geschichte

Heppendorf, irgendwann im 19. Jahrhundert. Der Winter war gnadenlos, Schnee stapelte sich bis über die Schuhspitzen, und die Straßen wirkten so leer, als hätte jemand den Strom abgeschaltet. Und mittendrin drei Typen, die mehr Lust auf Abenteuer als auf Raclette hatten. Treffpunkt war eine Werkstatt, damals berüchtigt für solche „Spezialtreffen“. Dort schmiedeten sie Pläne, wie sie an Wild kommen konnten, ohne gleich erwischt zu werden.

Zwischen dem Garten des Pastors und dem „Breddelsmaar“ liegt eine Wiese, voll mit Sträuchern und Wild. Gewildert wurde dort kaum, so dass dort immer wieder Wild anzutreffen war. Normalerweise ist diese Gegend für Wilderer tabu – ein Schuss dort hätte sofort die halbe Nachbarschaft alarmiert. Aber Silvester? Da knallt’s sowieso überall, eine perfekte Tarnung! Und falls etwas passiert, ab nach Laach.

Sie überlegten ihre Strategie. Zwei von ihnen stellten sich am Graben als Wache auf, während der Dritte den „Anstand“ übernahm – allerdings auf eine ziemlich ungewöhnliche Weise. Statt Tarnjacke und klassischem Versteck kroch er in einen großen Korb voller Spreu. Dort konnte er kauern, halb verborgen und doch einsatzbereit. Die Hasen würden das vermeintliche Futter wittern, neugierig heranhoppeln und direkt vor der Büchse landen. In der Silvesternacht, wenn Freudenschüsse knallen, würde ein gezielter Schuss nicht auffallen. Ein Plan, der zugleich raffiniert und reichlich verrückt klang.

Zur Sicherheit gönnten sie sich noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche – das sogenannte „Zielwasser“. Danach murmelten alle gemeinsam den Schlachtgruß „Samiel hilf!“, ein Ausruf, der tatsächlich aus der Oper „Der Freischütz“ stammt. Mit diesem kuriosen Ritual war der Plan endgültig besiegelt.

Es war Silvesterabend, eine frostklare Nacht. Der Schnee knirschte unter den Füßen, die Straßen waren leer und das Dorf wirkte wie ausgestorben. Die Leute saßen gemütlich am Ofen oder im Wirtshaus. Unsere drei Helden gingen jeder für sich in eine andere Kneipe, als sei nichts geplant. Aber nur so lange, bis die Uhr tickte. Punktgenau stapften die drei aus der Kneipe raus, trafen sich draußen wie ein streng geplanter Einsatztrupp.

Sie nehmen Stellung ein. Der Schütze befindet sich im Korb, die anderen im nahen Graben. Tatsächlich kommen die neugierigen Hasen in Richtung Korb. Der Schütze legt an und spannt den Hahn. Es ist mucksmäuschenstill. In diese Stille hinein läuten die Glocken das neue Jahr ein. Die Hasen, ein Satz und weg. Der Schütze blass vor Schreck feuerte den gezielten Schuss in die Luft ab. Doch statt Beute gab es Comedy pur. Der Rückstoß des Gewehrs war so heftig, dass der Korb auf dem glatten Untergrund ins Rutschen geriet, umkippte und den Schützen unter sich begrub. Dieser musste sich mit viel Getöse aus dem Spreuhaufen mühsam herauswühlen. Die Hasen waren längst verschwunden und schauten sich das Spektakel aus sicherer Entfernung an. Die Szene war ein einziges Chaos.

Nun brach Panik aus. Die drei rannten schließlich sternförmig in Richtung Laach, jeder davon überzeugt, die anderen seien schon geschnappt worden. Dort trafen sie sich wieder – und jeder sagte, als er ankam: „Gott sei Dank, dat hät noch ens got gegangen“.

Natürlich wurde die Sache nun aufgearbeitet, denn jeder wollte wissen, was eigentlich los war.

Der Erste sagte: „Wie dä Korf ömfehl, daht ich, och jömmich, do han se osse Lakuhl ald mem Krips gepack - un do hän ich mich de Könt gegovve."

Sinngemäße Übersetzung für Auswärtige:

„Als der Korb umkippte, dachte ich: ‚Oh je, jetzt haben sie uns schon im Loch mit einem Griff gepackt – und da habe ich mich durch den Graben davongemacht.‘“


Danach erzählte ein anderer:
„Wie ich sooch, dats du Fächtegäld jovs, hän ich mich och dönn gemaaaht."

„Als ich sah, dass du Fersengeld gegeben hast, habe ich mich ebenfalls aus dem Staub gemacht.“


Nun erzählte der Schütze seine Version.
„Su eß et richtig, dann eß jo de en für de angere loofe gegange, dänn wie ich van üch keener mieh sooh, daht ich, jetz eß et Zeck, dats de op Laach ahn kühs."

„So ist es richtig – dann also jeder nach dem anderen losgerannt, und als ich von euch keinen mehr sah, dachte ich: Jetzt ist es soweit, jetzt musst du nach Laach flüchten.“

Man schwor sich hoch und heilig, über die nächtliche Aktion den Mund zu halten, denn der Spott hätte sonst schneller die Runde gemacht als ein Neujahrslied. Also trotteten die drei ganz kleinlaut und fröstelnd nach Hause. Kein Hase, kein Festschmaus. Übrig blieben nur drei durchgefrorene Gestalten, die sich gegenseitig eher mit deftigen Spitznamen als mit Neujahrswünschen bedachten.

Irgendwie sickerte mit der Zeit trotzdem etwas durch. Das Dorf hatte später seinen Spaß. Aus den „Helden“ der Silvesternacht wurden die Stars der Dorfkomödie – ganz ohne Bühne, aber mit garantiertem Gelächter.



Neu interpretiert nach einem Artikel aus der Zeitschrift „Der Erft-Bote“ vom 2. Januar 1950.
Das „Heppendorfer Platt“ wurde originalgetreu übernommen.